Hinter den Kulissen

Let it Byrne

Es gibt was auf die Ohren: Zur Feier von David Byrnes »Wie Musik wirkt« haben Lektor Hans Jürgen Balmes und Übersetzer Achim Stanislawski jeweils ihre Top 5 Lieblingssongs von David Byrne zusammengetragen.

David Byrne – Fünf Tracks für die Insel
von Hans Jürgen Balmes

Sax & Violins
Die Talking Heads hatten 1990 »Naked« ihre letzte Studioplatte aufgenommen, aber ein Song ging noch, der aber nicht mehr aufs Album kam: ein Track für den Wim Wenders Film »Bis ans Ende der Welt«. Dabei war für die Talking Heads gerade das Ende der Welt gekommen. Byrne war draußen, wollte nicht mehr rein und sang: »Falling, falling through the atmosphere, on a warm afternoon«. Er sang das mit seinem sanften Bariton, den er erst später entwickelt hatte, dazu ein tastendes Keybord, dann fiel die Band mit einem komplexen, aber absolut tanzbaren Rhythmus ein. Alles für einen großen Talking Heads-Song ist da, und am Ende des Songs kommt Byrne noch mit der panischen Kante aus »Psychokiller«. »Der Film soll in der Zukunft spielen, im Jahr 2000, also dachte ich mir aus, wie die Talking Heads im Jahr 2000 bei ihrer Reunion klingen könnten«, meinte Byrne damals. Der Termin ist verweht. Aber die Summe ihrer Kunst ist da: »Falling, falling, through the atmosphere, on a warm afternoon.«

Knotty Pine
Byrne on the lookout: neue Bands, neue Stimmen, neue Rhythmen.Was passiert, wenn man alles zusammenbringt, um einen Song aufzunehmen, den man in den 70er an einem dieser Minitransitorradios im Strandbad gehört haben könnte, unter Krüppelkiefern, in der Sonne küssen und den ewigen Twist vergessen, einfach nur straighter Rock. Für das Einfache muss man Umwege gehen, und Byrne findet als Reisegenossen die »Dirty Projectors«. Gerade hatten wir den Namen der Band auf KEXP buchstabieren gelernt: Songs mit Melodieverläufen von at random gesteuerten Chorälen – absolut treffsicher in der Harmonik, und dazu … afrikanische Gitarren? Und so selbstverständlich, als wäre es seine eigene Schulband, hat Byrne einen Song für sie. Gemeinsam nehmen sie ihn für ein Benefiz-Projekt auf: »Dark Is The Night«. Hell leuchtet die Kiefer!

Knee Play #1
Schauspiel Köln. Robert Wilson soll ein Stück für die Olympiade erfinden, inszeniert werden die einzelnen Szenen überall auf der Welt, in Köln sehen wir alle »deutschen Teile«, dazwischen »Kneeplays« als Zwischenspiel – David Byrne schreibt eine Blasmusik dazu, deren getragen langen Töne klingen, als hätte sie jemand unter Wasser aufgenommen. Lange Posaunenklänge eröffnen das Stück – eine Musik, die mich mein Leben lang nicht mehr verlässt. Ihre unerwartete, so andere Schönheit ist das gleiche Erlebnis wie zum ersten Mal Steve Reich hören. Ein Segen. Beides, Reich wie Kneeplays, erschienen damals auf einem deutschen Label: ECM. Musik für neue Ohren.

She Only Sleeps With Me
Byrne ist scheu, wir sitzen in seinem Büro in der Küche, jemand hat einen Kaffee gebracht, und er wartet, dass irgendetwas passiert. Er ist stumm, und ich erzähle aus leichter Panik, dass mein Sohn und ich gerade Memphis Slim hören und dass es mich an ihn erinnert. Wieso denn das? Shit, wie komme ich da wieder raus? »She is a beer drinking woman«, ist das nicht eine Art die Geliebte zu necken wie in: »she has a porno book under the kitchen sink … but she only sleeps with me«? Ist das so etwas wie das Sonett – als Genre. Keine große Reaktion, aber ich darf bleiben, als eine Gruppe Kölner Produzenten kommt und eine neue CD mitbringt, an der er mitarbeitet hatte:

For You
»Worried Noodles«, eine Doppel-CD mit 39 Tracks nach Texten (ja: Texten!) von David Shrigley, dessen betont ungelenke Zeichnungen wie debile Karikaturen auf noch viele debilere Phänomene reagieren: den Kunstmarkt, die Pop-Songs, auf das Leben überhaupt, auf die Anstrengung, diese Zeichnung zu Ende zu bringen oder die vier Worte zu notieren. Grizzley Bear ist dabei mit meiner absoluten Lieblingssong der Band: »Black Current Jam«, in dem es, Surprise, um Marmelade geht. In David Byrnes Song geht’s um alles, wieder im sanften, an den Ecken etwas angestrengt wirkenden Bariton – aber mit einer Begleitung, als hätte auf der »Psychokiller«-Kassette im Ghetto-Blaster, mit dem er in dem Konzertfilm »Stop Making Sense« auf die Bühne kommt, die ganze Zeit über noch ein zweiter Track gesteckt.
 


Fünf Lieblingssongs von David Byrne
von Achim Stanislawski

I Zimbra – Talking Heads
I Zimbra ist der Titel eines Dada-Gedichts von Hugo Ball, es ist aber auch einer meiner Lieblingssongs von den Talking Heads. Byrne singt in dem Song den Nonsense-Text über ein mitreißendes Arrangement mit einer Hingabe und Lust, die sofort in die Beine fährt. Der Song ist sinnbildlich für den arty Pop der Talking Heads.
Der Song verdeutlicht auch ein wichtiges Kompositionsprinzip Byrnes, wonach gute Popmusik von der Musik aus gedacht werden muss. Seine cleveren, hochlyrischen Songtexte sind nämlich oft nur ein sekundäres Produkt des musikalischen Arrangements, sie entstehen aus einem Wortkauderwelsch, den er über den fertigen Song gesungen und dann in englische Wörter und Sätze übersetzt hat. Soll doch Bob Dylan seine Songs mit den Lyrics beginnen. Dafür gewinnt man vielleicht den Nobelpreis; aber tanzen die Mädchen auch drauf?
I Zimbra ist cleverer Pop in Reinform, schlau und tanzbar. Und ganz nebenbei die gelungenste Interpretation eines lyrischen Werks in Schrift und Ton, die mir bekannt ist. Ob sich Hugo Ball wohl hätte träumen lassen, dass einst Leute auf seine Gedichte tanzen würden?

Pull Out the Roots  - Talking Heads
Die Talking Heads werden oft in einem Atemzug mit The Ramones, Television und anderen Bands der New Wave genannt, die in den späten 1970er Jahren den selbstverliebten Gitarrenrock der 1960-70er Jahre ablösten. Ein wichtiges Element wird dabei aber gerne übersehen: Die Musik der Talking Heads war immer offen für Stile, die in den USA damals als Musik der Schwarzen galten, für Disco und Funk. »Pull Out the Roots« ist einer der vielen großartigen funky Songs vom Album »Speaking in Tongues« (1983), der gleich in zweifacher Hinsicht die Grenzen der ethnischen Segregation einreißt: Ein Song, der »weiße« Rock-Pop-Musik mit »schwarzem« Disco-Funk mischt, und gleichzeitig als Plädoyer daherkommt, sich nicht weiter in die Identitätspolitik zu flüchten, sondern aufeinander zuzugehen: I don’t mind some slight disorder/ pull out the roots/ I know every human creature/ pull out the roots, pull out the roots.

America is Waiting – David Byrne und Brian Eno
»My Life in the Bush of Ghosts« ist selbst für ein Konzeptalbum ein ganz schönes Brett. Beim Titel der Platte hatten sich Eno und Byrne bei dem obskuren nigerianischen Autor Amos Tutuola bedient, der wie kaum ein anderer afrikanischer Autor die altwehrwürdige Form des europäischen Romans sprengte. Das Album ist pures Dynamit. Eno und Byrne haben es 1980 (!) komplett aus Samples komponiert, auf Tonband und Kassettenaufnahmen von Radiopredigern, Reklame, Fernsehmitschnitten, exotischen Kassettenaufnahmen aus allen Ecken der Welt. All das lange bevor Hip-Hop und digitale Mischpulte das Sampling zum eigentlichen Kompositionsmittel der modernen Popmusik machte. Eno und Byrne mussten die Tonspuren noch von Hand zusammenkleben. Das Ergebnis ist das wohl erste postmoderne Musikalbum, das musikalische Äquivalent eines komplett aus Zitaten gebauten Romans.

Stay Up Late – Talking Heads
Wenn das Kind zahnt und du zum siebten, achten Mal in dieser Nacht mit ihm aufstehst, auf die Uhr schaust, siehst, dass es gleich fünf und die Nacht schon fast vorbei ist, du gefühlt nicht eine Sekunde geschlafen hast, aber auch morgen der Schreibtisch wieder nach dir ruft, dann geht manchmal eine Tür in dir auf. Es ist die Tür, die Derwische und feiernde Clubber manchmal im Tanz finden: Aus Erschöpfung wird schlagartig Freude. Das Tal der Müdigkeit ist gründlich durchschritten. Plötzlich hast du das Gefühl, du levitierst, alle Glieder sind ganz leicht, der Kopf ist klar. Wenn du dort angekommen bist, im Zustand der Gnade, und auf das endlich, endlich schlafende Kind in deinen Armen schaust, dann fällt dir dieser Song ein. Und du singst ihn, als leises Wiegelied für das Kind und dich: »Little smile on his face / Don’t cha‘ love the little baby/ Don’t you want to make him stay up late«.

Everybody’s coming to my house – David Byrne
2018 veröffentlichte David Byrne das Album »American Utopia«. Der Titel ist ein Statement, es ist der Versuch gegen einen amerikanischen Präsidenten anzusingen, den Angst, Missgunst und Paranoia ins Amt gehievt haben. In einem subtilen Statement veröffentlichte Byrne eine von Studenten der Detroit School of Arts a capella eingesungene Version der Hitsingle aus diesem Album. In der Musik gibt es dieses andere Amerika noch, und wir alle sind dort eingeladen:
 

David Byrne wurde in Schottland geboren und in Amerika berühmt. Als Frontsänger der 1975 von ihm mitbegründeten Band Talking Heads gelang ihm der Durchbruch, später war er auch als Solokünstler erfolgreich – als Musiker, aber auch als Filmproduzent, Autor und Fotograf. Das Multitalent hat zahlreiche Preise gewonnen, darunter einen Oscar ...

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